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Kulturkritik: Bürgerbühnenpremiere «Bedrückend, verstörend und ohne Hoffnung»

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Hintergrund
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Kulturkritik


„Baseballschlägerjahre oder Im Warteraum der Zukunft“

25. November 2024

Autor Bernd Hesse

Bericht über die Premiere der Bürgerbühne im Kleist Forum Frankfurt
vom 23. November 2024.

© Foto: Bürgerbühne / Kleist Forum

Die Triggerwarnung zu Beginn des Stückes kann nicht verhindern – und soll es vermutlich auch nicht –, dass die vorsichtig formuliert „unangenehmen Erfahrungen“, mit denen die Zuschauer während des Stückes konfrontiert werden, mit einer solchen Wucht einschlagen.

Der Schreibprozess des Performers Marco Witt spannt in seinem autofiktiven Roman den Bogen vom letzten Weihnachtsfest vor der Wende in Familie bis in die Gegenwart. Er bildet die Rahmen- und Zwischenhandlung des Stückes. Marco sitzt anfangs in seinem Zimmer, schreibt und spricht: „Ich schreibe einen Roman. Ich erinnere mich für einen Roman. Ich übertreibe für einen Roman. Lasse aus für einen Roman, verdichte für einen Roman“, um dann gleich auf den Inhalt hinzuarbeiten: „Haben uns um das Schweigen um uns herum gewöhnt.“ Dieses Schweigen durchbricht das Stück. In einem persönlichen Gespräch mit Marco ergab sich, dass die Romanidee keineswegs fiktiv ist und ein Manuskript hierüber wächst. Es ist die Geschichte einer Familie, die sich nach der Wende entzweit: die Ehefrau und Mutter geht in den Westen, der Vater bekommt das Sorgerecht für seine beiden Söhne, verliert seine Arbeit, bekommt keine Arbeit, findet keinen Sinn in vielen ihm zugeordneten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Seine Kinder sind sich weitgehend selbst überlassen.

Sehr einfühlsam spielt Dennis Kramp den nun schriftstellernden Marco in jungen Jahren, der zu seinem älteren Bruder aufschaut, mit ihm balgt und ihn liebt, dann aber den Prozess der Distanzierung und letztlich Anfeindung durchlebt und durchleidet. Konrad Fabisch übernimmt den Part des älteren Bruders, den Marco und der Vater bald nicht mehr verstehen können. Konrad liefert ein hervorragendes Spiel in allen Phasen des Stückes mit seiner eindringlichen Körpersprache. Das zunächst brüderliche Spiel kommt dabei genauso authentisch an wie seine Zweifel, die Ablehnung, Aggressivität und Brutalität seines Denkens und Handelns.

© Foto: Bürgerbühne / Kleist Forum

Der ältere Bruder tritt aus dem Fußballverein aus, sein Freundeskreis wandelt sich, er hört mit Freunden laut Musik, Störkraft und Böhse Onkelz, er trinkt, er grölt. Auch Marcos Abstand zum Vater wird größer. Der Bruder erklärt, dass der Vater bei der Stasi war. Weshalb hat er sonst so schnell die Arbeit verloren? Der Vater redet nicht darüber. Und der Bruder springt in die Lücke, die der Vater reißt. „Ich werde dich beschützen! Vor den Ausländern. Vor den Linken. Vor den Rechten. Vor den gefährlichen Polacken.“ Der Bruder wählt einen neuen Sport: Boxen. Er rasiert sich eine Glatze, trägt Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln und eine Bomberjacke. Marco ahnt, was der Bruder mit seinen Kumpels treibt. Die Polizei bringt den Bruder nach einer Schlägerei nach Hause. In der Gegenwart recherchiert Marco für sein Buch und überlegt, welche Rolle sein Bruder damals gespielt haben könnte, bei welchen Taten er dabei war.

Dann folgt wieder einer der vielen gekonnt eingebauten Zeitsprünge, bei denen die Inszenierung den Zuschauer nicht ratlos lässt. Dennis ist der junge Marco aus der Erinnerung, aus dem Manuskript; Marco ist im hier und heute der Chronist. Die Inszenierung erreicht einen ihrer dramatischen Höhepunkte: Während der junge Marco zusammen mit seinem Freund abhängt und ein Bier trinkt, kommen der Bruder und dessen Kumpel, ebenfalls mit Springerstiefeln und Bomberjacke, hinzu. Nur dass der Kumpel (Ben Bölke) den Baseballschläger in der Hand hält.

In der Figurenkonstellation sind neben Protagonisten und Antagonisten geschickt weitere Personen als Randfiguren eingebaut, die erklären, auch wenn dies durch Fragen geschieht, und die bis zum Ende des Stückes verwendeten Chöre stärken. Auch eine Figur aus Marcos Träumen tritt auf. Ein Mädchen, dass zunächst lächelnd mit dem Vater spricht, sich ein FDJ-Hemd anzieht, mehrere Metamorphosen durchlebt, und am Ende die Hände nicht in Unschuld, sondern in Blut wäscht. Das Traumbild scheint eine Verkörperung zerstörter Hoffnung, eine Warnung, eine Erinnerung. Sie erinnert stark an die Figur der blauen Frau in Antje Ravik Strubels Roman „Blaue Frau“: Eigentlich gibt es sie nicht, aber sie tritt immer wieder auf. Der Sprechchor wird unter der Regie von Hannes Langer und der Dramaturgie von Katja Münster über das ganze Stück hinweg eingesetzt und bekommt nicht nur durch unterschiedliche Betonung und durch wohlgesetzte Pausen eine größere Bedeutung als in bisherigen Inszenierungen. Da wurde ordentlich geprobt: Keiner der Sprecher hängt hinterher oder wirkt unsicher. Inhaltlich wird der Chor zu Erklärung, Straffung der Handlung und Mitteilung der Erfahrungen Vieler eingesetzt, ohne dass er in einer der Szenen deplatziert wirkt.

© Foto: Bürgerbühne / Kleist Forum

Nicht auf den ersten Blick ist der Aufwand des Bühnenaufbaus erkennbar, da für die Zuschauer zunächst nur das heruntergekommene Wohnzimmer einer Sozialwohnung mit abgerissenen Tapeten und Podest sichtbar ist. Dahinter liegen für die Zuschauer unsichtbar ein Kinderzimmer, die Küche, Marcos Schreibzimmer und ein weiterer Raum, die erst durch die Videoübertragung sichtbar werden. Alle Achtung vor den Technikern, die das Abbauen und für die späteren Vorstellungen wieder aufbauen müssen. In dieser Produktion ist alles größer und imposanter, was die Frage entstehen lässt, ob sie nicht für den großen Saal geeigneter gewesen wäre.

Tonkünstler „Richy“ Richard Wolf übertraf sich mit dem Sound selbst. Die Musik untermalte gekonnt die Handlung und steigerte die Dramatik des Stückes punktgenau.

Im Publikum waren der Regisseur Mirco Borscht, der sich dem Thema dieser Zeit mit mehreren Filmen gewidmet hatte, von denen wohl sein Kinofilm „Kombat Sechzehn“ der bekannteste sein dürfte, und der Autor und Journalist Christian Bangel, der den Begriff „Baseballschlägerjahre“ geprägt hatte und diese Zeit im Roman „Oder Florida“ verarbeitete. Beide diskutierten während der Premierenfeier eifrig mit dem Publikum.

Die geplante Premiere fiel wegen der Erkrankung eines der Performer ins Wasser, weshalb die angekündigte zweite Vorstellung am 23. November 2024 zur Premiere wurde. Diese und die dann erst einmal nur stattgefundene zweite Vorstellung waren ausverkauft, wobei Wartende an der Abendkasse nicht abgeholte und zurückgegebene Karten ergattern konnten.

Neben den erwähnten Performern Marco Witt, Dennis Kramp, Konrad Fabisch und Ben Bölke wirkten mit: Katharina Azbel, Dietmar Bader, Jeremie Jonscher, Ronja Nicolas und Sophie Scheiper. Regie: Hannes Langer, Dramaturgie: Katja Münster, Sound: „Richy“ Richard Wolf, Assistenz: Anna Buchhorn und Jonas Rangott.

© Foto: Bürgerbühne / Kleist Forum

Die nächsten Vorstellungen sind am:

08.02.2025 / 19:30 / Studiobühne
14.02.2025 / 19:30 / Studiobühne
19.02.2025 / 19:30 / Studiobühne
27.02.2025 / 19:30 / Studiobühne
02.03.2025 / 19:30 / Studiobühne

Für die weiteren Vorstellungen ist eine Platzreservierung per Email an: ticket@muv-ffo.de, an der Kasse im Kleist Forum oder in der Deutsch-Polnischen Tourist-Information im Bolfrashaus erforderlich.

Geschrieben von: MK

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