«Halblang – Eine Ode an Trixi, Mandy und Colette» der Bürgerbühne im Kleist Forum – vordergründig laut, hintergründig forschend.

Von Bernd Hesse.


Gastregisseur Mirko Borscht, bekannt durch seinen Film „Kombat Sechzehn“, hat bei Film und Theater schon so ziemlich alles probiert, was es gibt: Von der Kamera über die Beleuchtung, zur Materialassistenz, hin zur Regieassistenz und dann Regie und Drehbuch. Sein Faible für filmästhetische Installationen führte ihn an internationale Bühnen. Wer bisher seine Arbeiten sehen wollte, konnte auch mal schnell ins Maxim Gorki Theater nach Berlin, wo er des Öfteren inszeniert hatte und staunen. Er löst gerne tradierte Formen und Vorstellungen von Theater auf: Da kann es schon mal passieren, dass eine Vorstellung beendet ist und doch ein Schauspieler so lange weiterspricht, bis der letzte Gast den Saal verlassen hat. Bekannt ist Borscht für seine Art, sich radikal mit Gegenwartsproblemen auseinanderzusetzen. Erfahrungen hat er auch bei der Arbeit mit Laiendarstellern. Angekündigt war ein theatralisches Stadtteilprojekt zu den verschiedensten Lebenswegen und am Puls der Zeit, für das Borscht und sein Team beim Friseur Tietz recherchiert hatten, denn wo erfährt man so viel über einen Kiez wie dort. Wie jedoch sollte dieses Konglomerat in ein Stück gegossen werden?

Eigentlich begann das Stück schon vor dem Stück. In Ordnung konnte man sich denken, das wird ein echter Borscht. Viele der Performer fanden sich schon vor der Aufführung auf dem Balkon des Kleist Forums ein und gingen mit den Zuschauern, die sich ihre Stühle selbst mit in den Saal nehmen sollten, gemeinsam in die Studiobühne. Da wurde schon mit dem Beginn des Stückes experimentiert, auch mit der strikten Trennung von Bühne und Zuschauerraum. Die Bar in der Wandelhalle war aufgebaut, aber gleich mit einem Hinweis versehen, sie werde erst nach der Veranstaltung geöffnet. Na prima! Da kommen Gäste extra eine halbe Stunde vor der Vorstellung, um sich bei einem Gläschen Wein auf die Performance einzustellen und dann müssen sie unverrichteter Dinge in die Veranstaltung. Das kann ja was werden! Beim Eintritt in die Studiobühne gab es eine Bar in der Ecke, die zum Stück gehörte, dessen zentrale Szenen auf einer Raumbühne in der Mitte gespielt wurden. Die Zuschauer wurden vom Regisseur persönlich wie bei einer Regieanweisung aufgefordert, sich rund um dieses Podest zu setzen, zwischen den Stühlen ausreichend Platz für die Darsteller lassen, die sich frei im Saal bewegen sollten, und schon mal an die Bar im Frisiersalon gehen, um ihre Bestellung aufzugeben, was auch gerne während der Vorstellung erfolgen könne. „Bitte nicht die Handys ausschalten, weiterschwatzen und ruhig auf die Toilette gehen, wenn Ihnen so ist“, sind Forderungen, die Theaterbesucher nicht zu hören gewohnt sind. Langsam dämmert es: wir sind schon mitten im Stück und spielen mit, wir warten beim Frisör. Nicht die Darsteller, sondern das Publikum bekommt die Regieanweisungen, alles ist Bühne. Borscht rennt mit seinem Mikro durch den Saal, greift sich ein paar Zuschauer, leitet sie als VIP’s ganz vorne an die Bar, vorbei an der sich bildenden Schlange, und heizt die Stimmung an. Mal sehen, wie er das sich entwickelnde Tohuwabohu in den Griff bekommen und die Handlung entwickeln will! Schon bekommt man Lust, sich auf den Frisierstuhl auf dem Podest zu legen und lauthals auszurufen: „Einmal halblang, bitte!“

© Foto: Bernd Hesse

So weit geht es dann selbst bei Borscht nicht. Die aus Film und Theater bekannte Schauspielerin Susann Toni Wagner mimt eine resolute, trinkfeste und ihre Kunden fest im Griff habende Friseurin, bei deren schon pathologisch anmutendem ununterbrochenen Redeschwall man eine Polyphrasie vermuten könnte. Ihre schauspielerische Leistung zieht die Zuschauer in den Bann und nach einem langen Monolog, der Wagner kreuz und quer durch die Studiobühne treibt und in dem Termine angenommen, Kunden frisiert, monologisierte Gespräche mit Kolleginnen und Kunden geführt werden, gibt es einen ersten spontanen Zwischenapplaus. Applaus ist Balsam für die Seele einer Künstlerin und so schwebt sie, getragen von der Gunst des Publikums, die Hektik des Arbeitsalltags vermittelnd, weiter parlierend durch den Raum und legt dabei immer mal wieder an der Bar einen Zwischenstopp ein. Sie ist als Berufsschauspielerin die unbestrittene Nummer 1 im Ensemble, bezieht die Laiendarsteller geschickt ins Spiel ein und tritt zur Seite, wenn das Scheinwerferlicht einem anderen gebührt. So kann der Fokus auf die in Würde gealterte und dem Erlebten nachhängenden Dame gerichtet werden, den um die jüngeren Damen buhlenden Herren oder dem jungen Kunden, der eine Frisur loswerden möchte, die ihn wie Hitlers Stellvertreter aussehen ließ. Geschickt werden heitere Passagen in die stressige Alltagswelt geflochten, ohne in Schenkelklopfer auszuarten. So fühlen sich die Zuschauer gut unterhalten.

Borscht wäre aber nicht Borscht, wenn es da nicht die feinen, leise klingenden Töne gäbe. Kinder, die im Kiez am Thomas-Münzer-Hof spielend mit Ästen an die Bäume schlagen, um mit den innewohnenden Seelen in Kontakt zu treten. Und auch die Kunden lassen ein Stück ihrer Seele auf dem Frisierstuhl, das immer noch dort ist, wenn sie den Laden schon längst vergessen haben.

Die Videoinstallationen an den Seitenwänden der Studiobühne spielen ununterbrochen lange Szenen aus einem Haarstudio, die durch ihre Dauer nicht unruhig wirken und als Schwarz-Weiss-Film wie Dokumentationen empfunden werden. Genauso wie die Bilder kam in dieser Produktion auch das Licht und endlich mal die Musik die Handlung lediglich untermalend und nicht aus Selbstzweck zum Einsatz.

Das Geschehen kumuliert am Ende in einer berauschenden Partyszene auf dem Podest, die nach einem verdienten Beifall in eine ebenso gelungenen Premierenfeier mündete.

Neben Susann Toni Wagner wirkten mit: Sue-Ann Adam, Lisa Amberger, Dietmar Bader, Elen Becker, Christian Beissner, Annelie Böttcher, Doris Hegenbarth, Jeremie Jonscher, Barbara Machus und Sophie Scheiper.

Die nächsten Vorstellungen sind am:
MI / 17.4.2024 / 19:30 / Studiobühne
DO / 18.4.2024 / 19:30 / Studiobühne
FR / 19.4.2024 / 19:30 / Studiobühne
SO / 21.4.2024 / 19:30 / Studiobühne


Für die weiteren Vorstellungen ist eine Platzreservierung per E-Mail an ticket@muv-ffo.de, an der Kasse im Kleist Forum oder in der Deutsch-Polnischen Tourist-Information im Bolfrashaus erforderlich.

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