Kulturkritik: «Sekundenglück. Eine Kampfsport-Performance»

«Sekundenglück. Eine Kampfsport-Performance» der Bürgerbühne im Kleist Forum – weichgespültes Einverständnis oder kritische Kunst?
Von Bernd Hesse.


Ambitioniert startete die Bürgerbühne im Kleist Forum am 14. Februar mit der Premiere von «Sekundenglück» ins neue Jahr. «Mal ganz was anderes » ist ohnehin ein Motto, dem sich das Team um Regisseur Hannes Langer, Dramaturgin Katja Münster, die auch für die Videomontage verantwortlich ist, sowie der Regieassistenz von Sophia Dörner und Naomi Hutomo verschrieben hat. Ob es nun die Nöte bei Massenentlassungen, die Ängste von Geflüchteten, die Probleme in Werkstätten für behinderte Menschen, die Flucht aus einer perspektivlosen Gegend, die erste Liebe, die zweite Liebe oder sogar das Scheitern derselben sind – all das und noch viel mehr konnten die Gäste in den letzten Jahren auf der Bühne erleben.

Getreu dem Konzept der Bürgerbühne erhalten Bewohner der Stadt die Möglichkeit, ihre Sichtweisen, Probleme, Hoffnungen, Schwächen und Stärken auf der Bühne zu präsentieren und sich die Bühne zu Eigen zu machen. Dies erfordert schon einiges an Mut; schließlich offenbaren die Beteiligten einen Teil ihres Innersten vor einem Publikum, von dem sie nicht wissen, wie es reagieren wird – ob ihre Sorgen und Nöte ernst genommen, geteilt oder unverstanden bleiben. Trotzdem, so könnte man meinen, sollte es den Kampfsportlern nicht an Mut fehlen. Doch sich auf der Bühne im Scheinwerferlicht zu präsentieren, ist etwas vollkommen anderes als auf der Matte in der Sporthalle zu kämpfen.

© Foto: Anastasia Kalko

Mit sich selbst zu kämpfen, den inneren Schweinehund zu überwinden oder zumindest zur Ruhe zu bringen, daran sind die Sportler gewöhnt. Dies drücken die Sportschüler Fabrice-Elias Mirel Krüger, Henning Löbl, Matti Stolt, Karl-Friedrich Thoms und Nataniel Troczyński zu Beginn des Stücks aus, indem sie verkünden: «Ich kann vor dem Training kotzen, wie ich will. Das wird meine Performance nicht beeinflussen, denn ich kämpfe weiter!» Dies scheint nicht nur ein Versprechen zu sein, das die Sportler sich und ihrem Trainer David Borsos vor jeder anstrengenden Trainingseinheit geben, sondern auch dem Publikum, das durch den Bühnenaufbau mit Matten auf dem Boden, Sprossenwänden an den Seiten und verschiedenen Trainingsgeräten und Hallenutensilien in eine Trainingshalle versetzt wird.

Die Ringer sind Schüler der Frankfurter Sportschule. Regisseur Hannes Langer unterrichtet dort Darstellendes Spiel. Allein das birgt Konfliktpotenzial: Müssen er und seine Schüler sich nun zwischen Sport und Kunst entscheiden? Nehmen sie die Kunst ernst genug, um den Sport kritisch zu hinterfragen? Lässt andererseits die Bürgerbühne genug Raum, um den Erfolgsdruck, die Niederlagen, die monotone Eintönigkeit des Trainingsalltags, aber auch die Glücksmomente und den Stolz auf die Leistung und den trainierten, beinahe modellierten Körper darzustellen?

© Foto: Anastasia Kalko

Von den verschiedenen Sportarten, die an der Frankfurter Sportschule trainiert werden, wurde das Ringen als wohl am besten für die Bühne geeignet ausgewählt; wer möchte sich schon während einer Performance die Kugeln der Sportschützen um die Ohren sausen lassen? Damit wird ein weiteres Spannungsfeld des Stücks umrissen: Das Ringen wirkt mit Kampf, Gewalt, Disziplin und Uniformität, die im Stück mehrfach thematisiert wird, martialisch und scheint ein der Kunst und ihrer Kritik entgegengesetztes Feld zu sein. Der Künstlerische Leiter des Kleist Forums, Florian Vogel, deutete dies in seiner Rede vor der Premiere an, indem er auf Elfriede Jelineks Drama «Ein Sportstück» verwies. Jelinek zeigte Sport als ein gesellschaftliches Feld auf, in dem sich Gewalt in sanktionierter Weise in die Gesellschaft einschleicht, und charakterisierte den Kampf im Sport anlehnend an ein Clausewitz-Zitat als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Vogel wollte nicht mehr verraten, als dass das Stück der Bürgerbühne eine andere Sichtweise auf den Leistungssport eröffnen werde.

Einer dramatischen Linie folgend, erzählen die Schüler während der Vorbereitung auf das unmittelbar auf der Bühne beginnende Training, wie sie zum Ringen gekommen sind und wie stolz sie auf die Zulassung zur Sportschule waren. Der Schulleiter Jens Herrmann verwies vor der Premiere auf die Feierlichkeiten zum 70-jährigen Bestehen der Schule in diesem Jahr, die quasi mit dieser Premiere im Kleist Forum einen würdigen Auftakt finden. Aus ihrer Schule sind Welt- und Europameister sowie Olympiasieger hervorgegangen, die nur mit eiserner Disziplin, Ehrgeiz und Willenskraft das geschafft haben, woran die jungen Leistungssportler jetzt arbeiten. Vielen Menschen ist Frankfurt (Oder) erst durch die Leistungen der Sportler ein Begriff geworden. Nun stehen in wenigen Wochen die Deutschen Meisterschaften für die Ringer an, der Wettkampf, auf den sie die letzten Monate hingearbeitet haben, in dem sie alles geben werden, um diesen Augenblick des «Sekundenglücks» auf der obersten Stufe des Siegerpodests zu erleben. Diese Meisterschaften sind auch der Grund dafür, dass das Stück nach der Premiere vorerst nur noch einmal aufgeführt, jedoch später wieder in den Spielplan aufgenommen wird.

© Foto: Anastasia Kalko

Das Stück hat es geschafft, zwei Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, den Sport an der Schule, die seit Jahren den Titel «Eliteschule des Sports» erfolgreich verteidigt, und die ehrgeizigen Projekte der Bürgerbühne des Kleist Forums zusammenzuführen. Dabei wurden Aspekte wie das Herausreißen der Kinder aus dem Familienverbund durch das Internatsleben, die tägliche Mühsal des Trainings sowie die Risiken von Verletzungen und bleibenden Gesundheitsschäden nicht ausgespart. Eine detaillierte Schilderung einer sportbedingten Verletzung mit Operation verdeutlicht das Risikobewusstsein der jungen Sportler. Dieser Teil wurde ebenso vom Erzähler Dennis Kramp vorgetragen, der die Rolle bei der nächsten Veranstaltung an Sidney Fahlisch abgibt. Die Erzählerrolle ist die des Berichtenden und interessiert Fragenden. Die fünf Kampfsportler demonstrieren vom Training auf der Matte bis hin zu einer simulierten Wettkampfsituation ihr Können. Sieg und Niederlage sind ganz dicht beieinander, eine Metapher des ganzen Lebens, und der Wettkampf wird von einem Publikum beobachtet, das im Finalkampf so gespannt der Handlung folgt, als säße es im spannendsten Drama. Nach diesem Höhepunkt geht das Stück jedoch weiter. Was soll dramatisch noch folgen? Das übliche Training zeigt, dass nach dem Wettkampf vor dem Wettkampf ist. Hätten die Macher jetzt nicht abbrechen können? Nein! Es folgt ein unvorhergesehenes Finale, welches die Gemüter der Zuschauer bewegt, sie zwingt zuzuhören und ergriffen macht. Am Ende ist das Publikum so berührt, dass ein Beifall vor lauter Anteilnahme fehl am Platze scheint. Dennoch steigert sich der einsetzende Beifall, und es gibt Standing Ovation.

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