Oberbürgermeister Wilke zum Umgang mit den „Spaziergängern“

René Wilke (Die Linke), Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder)

Auf seiner Facebookseite hat am Sonntagabend Frankfurts Oberbürgermeister René Wilke Gedanken zu den sogenannten „Spaziergängern“ veröffentlicht, die seit einigen Wochen immer montags, um 18 Uhr durch die Frankfurter Innenstadt laufen. Ihm sei klar, dass die Gründe für die Teilnehmenden sehr unterschiedlich seien. Er möchte diese auch nicht über einen Kamm scheren. Das aber auch Verschwörungsideologen dabei sind und auch bekannte und bekennende Rechtsextremisten mitlaufen, sei für ihn ein Grund, dafür Sorge zu tragen, dass diese eben nicht mitlaufen. „Das ginge übrigens ganz simpel über das Anmelden einer Versammlung oder Demonstration, bei der man dann auch definieren kann, mit wem man sich gemein macht und mit wem nicht“ so der OB.

Hier der ungekürzte Text von Oberbürgermeister René Wilke:

Gedanken über gesellschaftliche Grautöne und die Frage nach dem Umgang mit den „Spaziergängen“

Liebe Frankfurterinnen,
liebe Frankfurter,

an kaum einem Küchentisch ist das aktuell kein Thema: Die „Spaziergänge“ und ihr Umgang damit. Das Thema ist so vielschichtig, dass es hier weder eine einfache Lösung, noch ein Patentrezept gibt. Ich bin weit davon entfernt, die Teilnehmenden über einen Kamm zu scheren, sie in eine politische Ecke zu schieben oder gar zu verteufeln. Ich weiß, dass die Gründe für die Teilnahme sehr unterschiedlich sind. Ich weiß, dass Ungeimpfte wie auch Geimpfte mitlaufen, die aber eine Impfpflicht kritisch sehen. Ich weiß, dass es vielen um die Angemessenheit von Regelungen geht und auch, dass sich so manche wünschen, das Thema Gesundheitsschutz viel breiter (samt Ernährung, Sport, Psyche uvm.) zu diskutieren. Das alles ist für mich nachvollziehbar und zu respektieren. Ich komme aber nicht umhin festzustellen, dass auch Verschwörungsideologen dabei sind und dass auch bekannte und bekennende Rechtsextremisten mitlaufen. Selbst wenn man unbedingt demonstrieren möchte (was völlig legitim ist), wäre Letzteres für mich ein Grund, dafür Sorge zu tragen, dass ich nicht an der Seite solcher Personen unterwegs bin. Das ginge übrigens ganz simpel über das Anmelden einer Versammlung oder Demonstration, bei der man dann auch definieren kann, mit wem man sich gemein macht und mit wem nicht.Fakt ist: So wie das momentan läuft, sind das nichtlegale Versammlungen, die das Versammlungsgesetz unterlaufen. Die Treffen wiederholen sich zur selben Zeit am selben Ort. Es wird dazu auf unterschiedlichen Wegen „aufgerufen“ und es werden Informationen dazu verteilt, wie man sich möglichst so verhält, dass behördliches Handeln (z.B. Indentitätsfeststellungen) erschwert wird. Angesichts dessen ist die vorgebliche Naivität und Unschuld rund um diese „Spaziergänge“ unglaubwürdig. Auch wird gegen die aktuelle Eindämmungsverordnung verstoßen. Letzteres ist für uns als Stadtverwaltung in der Zuständigkeit das Hauptthema. Denn wenn Verordnungen und Gesetze nun vom jeweiligen individuellen Willen zur Einhaltung abhängen, endet das in Chaos und wird für so ziemlich jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens ein Problem. Das Versammlungsgesetz wiederum ist Angelegenheit der Polizei. In meinem Verständnis ist das ein Ermöglichungsgesetz. Es sorgt dafür, dass jede und jeder sein Recht wahrnehmen kann und dies rechtsstaatlich organisiert ist. Anmeldungen sind keine Form der Drangsalierung, sondern eine Sache von 5-10 Minuten. Sie dienen dazu, einen sicheren Ablauf für alle zu gewährleisten. Für VerkehrsteilnehmerInnen, für Demonstrierende und auch für Gegendemonstrierende. Es wird besprochen, welche Strecke gelaufen, wie diese abgesichert wird und wie ggf. unterschiedliche Seiten voneinander ferngehalten werden. Denn das Problem entsteht beim nächsten gedanklichen Schritt, der von vielen leider nicht vollzogen wird. Und der lautet: Was passiert, wenn andere das gleiche „Recht“ für sich in Anspruch nehmen? Was ist, wenn Neonazis künftig keine Demonstrationen anmelden, sondern „spazieren gehen“? Was ist, wenn sich die Gegendemo der Antifa dann ebenfalls darauf beruft und „spazieren geht“? Was passiert, wenn alle anderen – von der Friedensdemo bis zum Frankfurt-Slubice Pride – das ebenso für sich in Anspruch nehmen? Chaos. Potentielle Eskalation. Unberechenbarkeit in Abläufen. Unkalkulierbarkeit bei Personaleinsätzen. Unmöglichkeit von Verkehrsabsicherung usw. Und genau das macht diese „Spaziergänge“ – neben der Frage des Infektionsschutzes – zu verantwortungslosem Verhalten. Es reicht im Leben nämlich nicht aus, nur auf sich, sein Handeln und den Moment zu gucken. Man muss auch die Folgen mitdenken. Zu staatsbürgerlichen Rechten gehören ebenso auch staatsbürgerliche Pflichten. Und ich betone dabei, dass es das gute Recht eines jeden ist, seine Auffassung auch auf Demonstrationen und Kundgebungen kundzutun. Aber eben im Rahmen von Gesetzlichkeiten und Regeln, die für alle gelten und wo sich niemand selbst rausnehmen und besserstellen sollte. Und jetzt wird es richtig kompliziert: Obwohl die Polizei und die Frankfurter Verwaltungsspitze das so sehen, gehen wir damit derzeit so um wie wir es tun. Das hat viel mit zwei anderen Prinzipien zu tun, die eine Verwaltung täglich anwenden muss: Verhältnismäßigkeit und Ermessen. Im Unterschied zu anderen Orten verlaufen diese Versammlungen in Frankfurt (Oder) bis dato überwiegend friedlich. Das ist gut. Einen Orden gibt es dafür nicht, weil wir das voneinander erwarten dürfen. Warum überwiegend? Auch verbale Aggression, Beleidigungen und Bedrohungen – insbesondere gegenüber MedienvertreterInnen – finden statt und dürfen nicht ausgeblendet werden. Was wären die Folgen einer Demonstrationsauflösung? – Ein Kräfteeinsatz der Polizei (die zeitgleich fast 100 Versammlungen brandenburgweit absichern muss), der PolizistInnen aus Cottbus und Potsdam hierher verlagern würde, obwohl dort Gewaltausbrüche (insbesondere durch die mitlaufende Hooliganszene) bereits erfolgten und weiterhin drohen. – In Folge dessen entstehende Aggression und möglicherweise Ausschreitungen mit Personen- und Sachschäden auch in Frankfurt. – Eine weitere Radikalisierung der Teilnehmenden, weil viele offenkundig nicht verstehen, dass es nicht gegen die freie Meinungsäußerung, sondern um die Form dieser geht. Gesellschaftliche Zerwürfnisse und Spaltung würden weiter verstärkt.- Daraus folgender Demonstrationstourismus durch radikalere, gewaltbereite Personengruppen von außerhalb in den darauffolgenden Wochen. Politisch betrachtet bin ich der Auffassung, dass es derzeit überall eher darum gehen muss, Brücken zu bauen, das Verbindende zu suchen und in Dialog zu treten wo immer möglich. Nicht aber vorhandene Zerwürfnisse zu verschärfen. Deshalb komme ich unterm Strich zu der Bewertung, dass die Folgen einer konsequenten Auflösung dieser Versammlungen derzeit mehr Schaden bedeuten, als dass Sie irgendein Problem lösen. Ja, der Staat würde seine Wehrhaftigkeit demonstrieren und seine Regeln mit aller Macht durchsetzen. Ja, all jene die (wie ich) dieses Verhalten für mindestens unbedacht, aber vor allem rechtswidrig und unsozial halten, wären kurzzeitig befriedigt durch die Herstellung von Gleichbehandlung und Durchgreifen. Aber um welchen Preis? Sind wir damit einen Schritt aufeinander zugegangen? Haben wir ein Argument ausgetauscht? Hat irgendwer seine Haltung überdacht? Nein. Wir hätten nur Vertiefung von Gräben und potentielle Gewalt – und das letztlich auf dem Rücken der PolizistInnen. Wir prüfen daher das vorhandene Film- und Bildmaterial und leiten ggf. (soweit überhaupt verwertbar) Verfahren wegen Verstößen ein. Aber so lange es friedlich bleibt, erscheint es mir verhältnismäßiger, nicht mit aller Konsequenz (und ohne Konsequenz geht nicht) einzuschreiten. Und wo immer sinnvoll und möglich, weiter den Dialog zu suchen. Und weil das so komplex und kompliziert ist, weil es das Gerechtigkeitsempfinden vieler trifft und sich auch die Frage damit verbindet: Warum halte ich mich an alles und „die dürfen das?“, ist es mir zugleich ein Bedürfnis, mich bei genau jenen zu bedanken, die sich verständlicherweise diese Gedanken machen. Es wird derzeit so viel über eine laute Minderheit gesprochen, aber so gut wie gar nicht die breite Mehrheit wertgeschätzt. All jede, die auch nicht mit jeder Regelung einverstanden sind. Die auch seit zwei Jahren unter den Einschränkungen leiden – familiär und beruflich. Die sich und ihre zusammengegoogelten Erkenntnisse nicht für den Nabel der Welt und den Stein der Weisen halten. Die auch ihre Fragen und Ängste hatten und haben. Sich aber am Ende dafür entschieden haben, zu vertrauen. In WissenschaftlerInnen, die jahrzehntelange Erfahrung haben und so viel mehr davon verstehen als wir. In eine Politik, die zwar – in Teilen gravierende – Fehler macht und auch von Unzulänglichkeiten geprägt ist, aber doch jeweils aufgrund uns allen innewohnender menschlicher Schwächen und nicht böser, verschworener Kräfte. Jene, die Wissen, dass nicht jede Regel in jede Situation passt, sich aber auch nicht jeder die Regeln aussuchen kann, die ihm oder ihr gerade passen. All jene, die nicht unkritisch sind, aber sehen, dass wir aufeinander acht geben müssen, Verantwortung füreinander haben, dass nicht alle Menschen gesund und jung sind und mit einem starken Immunsystem ausgestattet. Und dass die Folgen der Pandemie letztlich von jenen in Pflege und Medizin zu schultern sind und wir sie dabei nicht alleine lassen und im Regen stehen lassen dürfen. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Ich weiß, dass auch einige Teilnehmende der Spaziergänge diese Zeilen so unterschreiben können, sich und andere im Alltag schützen aber andere Gründe für die Teilnahme haben. Es ist nicht so einfach. Und so einfach dürfen wir es uns nicht machen. Wir gegen die. Die gegen uns. Das funktioniert nicht. Und deshalb hoffe ich, dass auch diese Zeilen weitere Diskussionen und Nachdenken auslösen. Ich finde, es ist und bleibt richtig, sein eigenes Verhalten nicht von dem (Fehl-)Verhalten anderer abhängig zu machen. Bleiben Sie bei sich und in Ihrer Mitte! Und leiten Sie von Enttäuschungen, Regelbrüchen oder Fehlverhalten anderer weiterhin nicht ein Recht ab, es ihnen gleich zu tun! Und obwohl das alles so kräftezehrend, abstumpfend und ermüdend sein kann – hören wir nicht auf, einander zuzuhören. Respekt zu wahren. Andere Auffassungen auszuhalten. Grenzen von anderen nicht zu überschreiten. Ohne Gram auseinanderzugehen, wenn man sich nicht einig wird. Und auf einander zuzugehen, wo immer wir können.

Ihr René Wilke

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