Forschung und Lehre zur Ukraine sollen Wissenslücken schließen. Seit dem Angriffskrieg Russlands sind sie deutlicher geworden. Ein neues Center an der Europa-Uni Viadrina will Abhilfe schaffen. Von Silke Nauschütz

Dagmara Jajeśniak-Quast denkt in diesen Tagen viel an ihre ukrainischen Kolleginnen und Kollegen. «Sie machen weiter, sie unterrichten. Sie bleiben ruhig, sie wissen dabei ganz genau, dass der Krieg lange dauern kann», beschreibt die Professorin sichtlich bewegt die Situation der Lehrkräfte an den Hochschulen im kriegsgebeutelten Land. Diese Entschlossenheit treibt sie an. Mit ihrem Kollegen Andrii Portnov leitet sie das am Donnerstag neu eröffnete Center of Polish and Ukrainian Studies an der Europa-Univerität Viadrina. Für das Center wurde das bestehende Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien erweitert.

Forschungsprojekte, Lehrangebote und Wissenstransfer

Welche Rolle spielt die Ukraine in Europa? Welche Erfahrungen aus Sozialismus oder Totalitarismus, Industrialisierung und Transformation gibt es? Zu diesen und anderen Fragen werden Forschungsprojekte entwickelt und Lehrangebote aufgelegt. Es gibt im Center zusätzliche Möglichkeiten für intensive akademische Beschäftigung mit Geschichte und Kultur, Politik und Gesellschaft. Zudem soll Wissen über die Ukraine der Öffentlichkeit zugänglich werden. Dafür arbeitet das Center mit Wissenschaftseinrichtungen in Europa und Übersee zusammen – etwa bei Übersetzungen.

«Die Viadrina hat eine besondere Mission, sie liegt an der deutsch-polnischen Grenze und hat sich schon immer für ein Gelingen der Kommunikation und Kooperation mit unseren Nachbarn im östlichen Europa eingesetzt», sagt Präsident Eduard Mühle. Mit dem Center könnte das noch intensiver betrieben werden. Polen und die Ukraine seien geschichtlich eng miteinander verzahnt und könnten deshalb nicht isoliert betrachtet werden, erläutert der Historiker.

© Foto: Heide Fest

Europa-Universität baut Brücken in den Osten

Schon zu ihrer Neugründung 1991 wurde der Europa-Universität die Rolle einer Brückenbauerin zugedacht. «Denn gerade an diesem Fluss und an diesem Ort ist uns bewusst, dass wir zusammengehören, dass hier an der Oder nicht das Ende Europas ist, sondern dass von hier weitergedacht werden muss», befand vor über 30 Jahren Brandenburgs damaliger Ministerpräsident Manfred Stolpe.

Vor allem im Öffnungsprozess der EU für ost- und südosteuropäische Länder hatte die Uni eine besondere Rolle. Viele polnische Studierende schrieben sich auch deshalb in den 1990er Jahren an der Viadrina ein. Durch eine gemeinsame Lehreinrichtung mit der Universität Poznań (UAM) in der Partnerstadt Słubice – dem Collegium Polonicum – wurde der Wissenschaftsbetrieb grenzüberschreitend.

Auch das nun erweiterte Zentrum für ukrainische und polnische Studien setzt auf die Tradition der Universität als Verbindungsglied Deutschlands mit seinen Nachbarn im Osten. «Die Notwendigkeit für ein Verständnis darüber, was in der östlichen Hälfte Europas passiert, war stets groß», sagt Uni-Präsident Mühle. «In jüngster Zeit hat diese Notwendigkeit neue, dramatische Dringlichkeit erreicht.»

Mit dem neuen Center knüpft die Europa-Universität auch an die Initiative von Brandenburgs Wissenschaftsministerin Manja Schüle an, in Frankfurt (Oder) ein besonderes Ukraine-Zentrum zu errichten, um die deutsche und internationale Ukraine-Forschung nachhaltig zu stärken. «In einer Zeit, in der weltweit Brücken zerstört und abgebrochen werden, brauchen wir diese Symbole der Hoffnung und der Begegnung mehr denn je», betonte die Wissenschaftsministerin.

Für den stellvertretenden Botschafter Polens in Deutschland, Paweł Gronow, ist der Mehrwert des Centers, «Wissen über die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit zu verbreiten und damit eine lange bestehende Lücke zu füllen».

© Foto: Europa-Universität Viadrina

Ukraine will in die EU – Center kommt fast zu spät

Zur Eröffnung des Zentrums kam auch der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev. «An der Viadrina und in Frankfurt (Oder) wird etwas Besonderes erreicht: nach Westen zu gehen und nach Osten zu schauen. Davon können die Deutschen profitieren», sagt er. Es fühle sich toll an, in Europa zuhause zu sein.

Die Ukraine hofft, dass sie bald EU-Mitglied werden kann. Die EU-Kommission hatte den EU-Mitgliedstaaten die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine empfohlen. Vor der ersten Gesprächsrunde soll das Land allerdings begonnene Reformen für eine bessere Korruptionsbekämpfung, mehr Minderheitenschutz und weniger Oligarchen-Einfluss abschließen müssen.

«Bei Verhandlungsprozessen wird abhängig sein, ob wir die Ukraine überhaupt verstehen», schätzt Professorin Jajeśniak-Quast ein. «Wir sind eigentlich fast zu spät mit dem neuen Center.» Geforscht und gelehrt werde im Center ausschließlich auf Ukrainisch, betont sie.

Die Europa-Universität hat zur Ukraine inzwischen ein großes Portfolio vorzuweisen. Es gibt Partnerschaften mit acht Hochschulen in der Ukraine. In den Jahren 2018 bis 2023 wurden etwa 90 Veranstaltungen mit Ukraine-Bezug angeboten. 154 Studierende aus dem osteuropäischen Land lernen an der Uni. Nach dem Angriffskrieg Russlands wurden Gastdozenten eingeladen, Stipendien vergeben.

Ende des Jahres läuft das Studien- und Stipendienprogramm für Graduierte aus der Ukraine vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) allerdings aus. Die Uni bemüht sich um weitere Fördertöpfe.

© 91.7 ODERWELLE mit Material von dpa

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