Das Beben – Was aus der Correctiv-Enthüllung folgte

Die Adlon Villa im Potsdamer Stadtteil Neu Fahrland.

Vor einem Monat veröffentlichte das Medienhaus Correctiv eine brisante Recherche zu einem nicht öffentlichen Treffen in Potsdam. Die Folgen hätte wohl kaum jemand so vorausgesagt. Von Verena Schmitt-Roschmann

Am 10. Januar kommt die Nachricht in aller Frühe direkt aufs Handy. «Im November sollen Rechtsextreme in einem Hotel in der Nähe von Potsdam einen Masterplan für massenhafte Abschiebungen aus Deutschland vorgestellt haben», pusht nicht nur das ZDF kurz nach 6 Uhr. Grundlage ist eine Recherche des Medienhauses Correctiv, genannt «Geheimplan gegen Deutschland». Die Folge ist ein Beben.

Seit einem Monat demonstrieren Hunderttausende überall in Deutschland für Demokratie, gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD. Die AfD hat intern Konsequenzen gezogen und nach außen hin schwere Vorwürfe erhoben. Und die Journalisten von Correctiv werden mal als Helden gefeiert, mal als «Lügner» verfemt. Was ist eigentlich genau passiert? Warum jetzt? Und wie lange wird das andauern? Eine Zwischenbilanz.

Die Enthüllung

Wer die AfD schon eine Weile genauer verfolgt, ist von den Correctiv-Enthüllungen an diesem Morgen nicht sonderlich überrascht. Der Kern: AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der Werteunion berieten am 25. November 2023 in Potsdam mit dem Taktgeber der rechtsextremen Identitären Bewegung, Martin Sellner. Der sprach dort nach eigenen Angaben über die sogenannte Remigration. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine große Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang. AfD-Politiker nutzen den Begriff auch öffentlich, fordern mitunter auch «millionenfache Remigration» – so wie die Delegierte Irmhild Boßdorf auf dem AfD-Europaparteitag 2023. Auch Verbindungen von Sellner in die AfD sind bekannt. Trotzdem trifft die von Correctiv aufwendig recherchierte Rekonstruktion des nicht öffentlichen Potsdamer Treffens einen Nerv. 

Die Demonstrationen

Schon am Tag nach der Veröffentlichung demonstrieren Menschen am Ort des Potsdamer Treffens vom November. Und das ist erst der Anfang. Am 12. Januar ziehen Hunderte vor das Berliner Kanzleramt und fordern ein AfD-Verbot. In den nächsten Tagen sind es Tausende, dann Zehntausende in Köln, Hamburg, München, Berlin. In kleinen Städten und in großen, im Westen wie im Osten. Es ist die größte Demonstrationswelle gegen Rechtsextremismus seit Jahrzehnten. Der Kanzler meldet sich zu Wort, der Bundespräsident, Minister und Ministerpräsidenten, teils demonstrieren sie mit. «Wir lassen nicht zu, dass jemand das ‚Wir‘ in unserem Land danach unterscheidet, ob jemand eine Einwanderungsgeschichte hat oder nicht», schreibt Olaf Scholz auf X (vormals Twitter). «Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist.»

Wieso wirkt ausgerechnet diese Recherche so stark? Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sieht «Kipppunkte der allgemeinen Wahrnehmung», die nur scheinbar überraschend kämen. «Es braucht ein brisantes, sofort verständliches, symbolträchtiges Schlüsselereignis – in diesem Fall die Konferenz in Potsdam», erläutert Pörksen der Deutschen Presse-Agentur. «Nötig ist darüber hinaus die öffentliche Skandalisierung, die die Gesellschaft aufrüttelt und konfrontiert. Und schließlich muss man die Vorgeschichte betrachten, die das Wahrnehmungsklima hintergründig prägt.» 

Dazu gehörten «Grenzüberschreitungen» von AfD-Politikern, das Umfragehoch der Partei, eine schwache Ampel-Koalition und eine kollektive Zukunftsangst im Angesicht von Großkrisen, meint der Medienwissenschaftler. «All das hat im Zusammenspiel eine Stimmungslage geschaffen, die in Richtung einer öffentlichen Positionierung drängt. Die Correctiv-Enthüllungen waren hier so etwas wie der letzte Tropfen.» 

Die AfD zieht Konsequenzen

Die AfD reagiert zweigleisig. Sie stellt das Potsdamer Treffen als privat und nebensächlich dar, zieht aber sofort Konsequenzen: Sie schasst Roland Hartwig, den persönlichen Referenten von Parteichefin Alice Weidel, der in Potsdam dabei war. Weidel wechselt dann sofort in den Angriffsmodus. Im Bundestag spricht die Partei- und Fraktionschefin von einer «beispiellosen Verleumdungskampagne» und «unglaublichen Lügen», sie nennt Correctiv eine «Hilfs-Stasi» im Dienste der Regierung. Das gemeinnützige, spendenfinanzierte Medienhaus erhält für einzelne Projekte staatliche Mittel, nach eigenen Angaben aber nicht für die Investigativrecherche.

Ein Streitpunkt ist, was die AfD mit «Remigration» meint. Correctiv schreibt als Ziel der Potsdamer Teilnehmer: «Menschen sollen aufgrund rassistischer Kriterien aus Deutschland vertrieben werden können – egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht.» Der AfD-Politiker Marc Jongen hält dagegen: «Die AfD macht keinen Unterschied zwischen deutschen Staatsangehörigen mit und ohne Migrationshintergrund.» 

Bei Potsdam-Referent Sellner spielen Menschen mit deutschem Pass aber durchaus eine Rolle. In einer E-Mail an die dpa schreibt der Österreicher, es müsse für bestimmte Gruppen eine «Minus-Migration» geben. Dabei nennt er auch «nicht-assimilierte Staatsbürger». Nötig seien «Anpassungsdruck» und «Anreize zur freiwilligen Rückkehr». Wohin deutsche Staatsbürger «zurückkehren» sollen, bleibt offen. Sellner bestätigt zugleich die Idee einer «Musterstadt», die «als Sonderwirtschaftszone in Nordafrika gepachtet und organisiert werden könnte». 

Die Folgen für Correctiv

Trotz aller Lügen-Vorwürfe ist nach Angaben von Correctiv bislang niemand aus dem Kreis des Potsdamer Treffens gegen Inhalte der Veröffentlichung vorgegangen. Es habe nur eine einzige Änderung im ursprünglichen Text gegeben, sagt die stellvertretende Chefredakteurin Anette Dowideit der dpa. «Korrigiert haben wir, dass der Teilnehmer Alexander von Bismarck kein Nachfahre von Otto von Bismarck ist.» Zwar lägen zwei Abmahnungsschreiben vor, aber: «Unser Rechtsanwalt und wir gehen bislang davon aus, dass wir aufgrund der Schreiben nichts an unserem Artikel ändern müssen.» 

Die AfD-Politikerin Gerrit Huy hat Strafanzeige gestellt, wie die Staatsanwaltschaft Potsdam bestätigt. Huy geht aber ebenfalls nicht gegen Inhalte des Artikels vor, sondern gegen eine etwaige Verletzung von Persönlichkeitsrechten. «Mir geht es insbesondere darum, Zugang zu eventuellen Ton- und Bildaufzeichnungen zu erhalten», schreibt Huy der dpa auf Anfrage. «Ich würde im positiven Fall auf Herausgabe dieser Aufzeichnungen klagen, um insbesondere die Tonaufzeichnungen anschließend öffentlich zu machen.» 

Denn das bleibt eine heiß diskutierte Frage: Woher wusste Correctiv so haarklein von Inhalten des Potsdamer Treffens? Das Medienhaus spricht von «Quellen» und «Gedächtnisprotokollen». Die Unterstellung, der Verfassungsschutz habe Informationen geliefert, weisen die Bundesbehörde wie auch Correctiv zurück. «Wir haben keine staatliche Einflussnahme, wir haben keinen Kontakt zum Verfassungsschutz, der uns da irgendwelche Sachen zugespielt haben soll», sagt Correctiv-Chef Justus von Daniels dem ZDF. 

Klar ist, dass das Medienhaus nun enorm bekannt ist. «Wir haben sehr viele neue Zusagen von Einzelspendern bekommen», sagt Dowideit. Zugleich berichtet Correctiv auch von Hasskommentaren und Drohungen.

Wie geht das weiter?

Die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und die AfD könnten eine langfristige Protestbewegung werden, meint der Marburger Protestforscher Tareq Sydiq. Da beim Organisieren Fridays for Future mitmischt, gibt es an vielen Orten Strukturen. Es haben sich breite Bündnisse mit Hunderten Verbänden gebildet, etwa für die Berliner Kundgebung «Hand in Hand» mit rund 150 000 Teilnehmern vergangenes Wochenende.

Die AfD setzt hingegen darauf, dass die Demo-Welle abflacht. «Wir sehen, dass natürlich gerade medial durch die Regierung aufgeputscht hier die Bevölkerung ein Stück weit aufgewiegelt wird, und das besorgt mich ein Stück weit», sagt Parteichef Tino Chrupalla bei ntv/RTL. Aber die AfD sei «in Umfragen immer noch stabil über 20 Prozent».

Tatsächlich lag die AfD im Politbarometer Anfang Februar nur noch bei 19 Prozent, um 3 Punkte niedriger als Mitte Januar. Forsa ermittelte zuletzt 18 Prozent für die Partei. Was das für die Europawahl im Juni oder die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September bedeutet, ist offen. In den drei Bundesländern ist die AfD Nummer eins.

© 91.7 ODERWELLE mit Material von dpa

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